Winfried Kretschmann und Thekla Walker eröffnen die Forschungsplattform
Mit der heutigen Eröffnung des weltweit ersten Windenergietestfelds in bergigem Gelände auf der Schwäbischen Alb bei Stötten im Landkreis Göppingen werden für das Windenergie Forschungscluster Süddeutschland (WindForS) ebenso wie für die heimische Industrie einzigartige neue Forschungs- und Entwicklungsmöglichkeiten geschaffen, die Baden-Württemberg auch langfristig zu einem Spitzenstandort für die internationale Windenergie-Forschung machen. Betrieben wird das Testfeld WINSENT (Wind Science and Engineering Test Site in Complex Terrain) vom Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg (ZSW).
Das ZSW hat das Testfeld gemeinsam mit den Universitäten Stuttgart und Tübingen, der Technischen Universität München, dem Karlsruher Institut für Technologie sowie den Hochschulen Aalen und Esslingen aus dem Windenergie Forschungscluster Süddeutschland WindForS konzipiert, entwickelt und errichtet. Den Startschuss für das Windtestfeld gab Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann gemeinsam mit Umweltministerin Thekla Walker sowie der Ministerin für Landesentwicklung und Wohnen Nicole Razavi. Dabei waren auch die Vertreterinnen und Vertreter des Projektträgers Jülich, des Landkreises und der Kommunen.
„Baden-Württemberg bleibt ein Zukunftsort für die Windenergie. Das neue WINSENT-Testfeld ist die erste Forschungs-Einrichtung dieser Art in bergigem Gelände – weltweit. Bisher steht nur jede fünfte Windkraft-Anlage in bergigem Gelände. Für einen wirkungsvollen Hochlauf brauchen wir deutlich mehr. Dafür braucht es neben Akzeptanz und guten Rahmenbedingungen auch neue technische Lösungen und die bringt das Testfeld voran“, so Ministerpräsident Winfried Kretschmann.
Aktuell stehen die meisten Windenergieanlagen weltweit in relativ flachem Gelände, vor allem in küstennahen Ebenen. Ambitionierter Klimaschutz erfordert jedoch eine deutlich stärkere Nutzung aller vorhandenen Windenergiepotenziale, so dass heute und in Zukunft mehr Windstrom auch in bergigem Gelände erzeugt werden muss. Für die effiziente Standorterschließung und den zuverlässigen Betrieb von Windenergieanlagen unter diesen speziellen Bedingungen besteht Optimierungsbedarf, etwa zur Standortbewertung, für Ertragsgutachten oder zur technischen Lebensdauer von Anlagenkomponenten. Diese Lücken sollen mit den Forschungsarbeiten auf dem Testfeld geschlossen werden, um einen wirtschaftlichen Betrieb von Windenergieanlagen in bergigem Gelände zu ermöglichen und damit den Klimaschutz weltweit voranzubringen.
Entwicklung und Erprobung neuer Technologien
Das Windenergietestfeld liegt am Rand des Stöttener Bergs an der Gemarkungsgrenze der Städte Donzdorf und Geislingen an der Steige auf einer unbewaldeten Freifläche oberhalb einer Geländesteilstufe, dem Albtrauf. Die Windgeschwindigkeit ist für die Forschung ausreichend hoch und weist hohe Turbulenz sowie wechselnde Schrägströmungen auf. „Das Gelände passt perfekt zu unseren Forschungsthemen, die auch international auf großes Interesse stoßen“, sagt Projektleiter Andreas Rettenmeier und ergänzt: „Die Bedingungen sind typisch für Windenergiestandorte in bergig-komplexem Gelände und somit ideal für die Entwicklung und Erprobung neuer Technologien, aber auch für die Entwicklung von Konzepten zur Stärkung eines naturverträglichen Windenergieausbaus.“ Die Forschung auf dem Testfeld fokussiert zwar auf die Besonderheiten der Windenergienutzung in bergig-komplexem Gelände, die Erkenntnisse zur Windfeldmodellierung, zur robusteren Auslegung der Anlagen oder zur effizienten, anlagenschonenden und ökonomisch optimierten Regelung können jedoch für alle Windstandorte sowohl an Land als auch Offshore adaptiert werden. Somit dienen sie auch der Weiterentwicklung der Windenergienutzung insgesamt.
Aufbau eines einzigartigen Datenpools
Am Standort stehen vier jeweils 100 Meter hohe meteorologische Messmasten, jeweils paarweise vor und hinter den beiden Forschungswindenergieanlagen. Sie zeichnen in unterschiedlichen Höhen Geschwindigkeit und Richtung des Windes, Lufttemperatur, Luftfeuchtigkeit und Luftdruck auf. Laseroptische Messsysteme erfassen zusätzlich die An- und Nachlaufströmung der Anlagen. Die zwei baugleichen Windenergieanlagen haben jeweils eine installierte Leistung von 750 Kilowatt. Der Rotordurchmesser beträgt 54 Meter, die Gesamthöhe knapp 100 Meter. Sie sind damit vergleichsweise klein, aber für die Forschungsaufgaben ideal, weil sich Umbaumaßnahmen für die Erprobung einzelner Elemente mit vertretbarem Aufwand umsetzen lassen, gleichzeitig aber die Ergebnisse dank digitaler Zwillinge (numerische Computermodelle) auf moderne Großanlagen skaliert werden können. Die Anlagen sind vom Fundament bis zu den Rotorblättern umfangreich mit Messsensoren ausgestattet. Vor allem der uneingeschränkte Zugriff auf die Anlagenkonstruktionsdaten und auf die Steuerung der Windenergieanlagen machen das Testfeld einzigartig. Für Experimente und Erprobungen statten Forscherinnen und Forscher eine der beide
n Windenergieanlagen mit den jeweiligen Neuentwicklungen aus, die zweite bleibt unverändert und dient als Referenz. So kann die Wirksamkeit von Innovationen durch den direkten Vergleich unmittelbar nachgewiesen werden. Dies ermöglicht eine Vielzahl völlig neuer Einblicke und Erkenntnisse. Die Untersuchungsergebnisse sollen in weiteren Schritten gemeinsam mit der Industrie auf kommerzielle Großanlagen übertragen werden.
Das Testfeld bietet somit für Unternehmen und Forschungseinrichtungen regional, national und international bisher nicht vorhandene Möglichkeiten zur Entwicklung, Erprobung und Validierung von Komponenten, Anlagenteilen oder Regelungsalgorithmen und liefert darüber hinaus eine Vielzahl an Daten für unterschiedlichste Anwendungsbereiche – von der Meteorologie über die Strömungsverhältnisse bis zur mechanischen Belastung von Bauteilen.
Knowhow-Transfer in Wirtschaft und Gesellschaft
Neben der rein technischen Forschung ermöglicht das Windenergietestfeld aufgrund seines besonderen Standorts auch eine umfangreiche Naturschutzbegleitforschung. Sie zielt auf die Vermeidung von Konflikten zwischen Artenschutz und Klimaschutz ab und adressiert damit einen wesentlichen Kritikpunkt an der Windenergienutzung.
Das Forschungstestfeld eröffnet eine Vielzahl weiterer Möglichkeiten, Innovationspotenziale rund um die Windenergie zu erschließen: von der Anlagenkonstruktion und deren Betrieb über eine mittels Künstlicher Intelligenz (KI) unterstützte optimierte Wartung bis hin zum Recycling von glasfaserverstärkten Kunststoffen (GFK), wie sie in Rotorblättern verbaut sind. Diese Potenziale vorzugsweise mit Unternehmen aus Baden-Württemberg für den Weltmarkt zu erschließen, ist ein klares Ziel des Testfeldbetriebs und der zugehörigen Forschungsaktivitäten. Für die Errichtung wurden Fördergelder in Höhe von etwa 13 Millionen Euro vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz sowie vom Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg bereitgestellt.